Wissenschaft ist oft mehr Berufung als Beruf. Dahinter steckt eine besondere Faszination für den Gegenstand. Johann-Matthias Graf von der Schulenburg, seit 33 Jahren Professor für Betriebswirtschaftslehre am Institut für Versicherungsbetriebslehre der Leibniz Universität Hannover, über seine Vorhaben nach dem 30. September, Begegnungen, die ihn als jungen Wissenschaftler tief beeindruckt haben und warum es ein großes Geschenk ist, die Lebensgeschichten seiner Vorfahren zu kennen.
Herr Professor Graf von der Schulenburg, ab 1. Oktober können Sie sich unliebsamer Aufgaben entledigen, nach Herzenslust forschen und nur noch das tun, was Ihnen Freude bereitet. Stimmt die Rede vom "Unruhestand" in der Wissenschaft?
Die Worte „Ruhestand“ und „Unruhestand“ passen nicht so recht zu mir. Ich war immer in Bewegung und werde es auch hoffentlich weiter sein. Ich habe zwar mein ganzes Berufsleben für die Wissenschaft gebrannt, aber sie war nur ein Teil meines Lebens. Daneben habe ich mich für vieles anderes interessiert und engagiert, z. B. für Musik. Mit Freunden habe ich die Altmarkfestspiele gGmbH gegründet. Mit ihr veranstalten wir rund 20 klassische Konzerte pro Jahr.
Zudem habe ich einen forst- und landwirtschaftlichen Betrieb, den ich in den letzten Jahrzehnten sehr vernachlässigen musste und dem ich mich nun wieder mehr widmen werde. Ob das mein Betriebsleiter mag, weiß ich noch nicht. Seit vielen Jahren bin ich im Kuratorium einer großen privaten Umweltstiftung. Wir haben da tolle Projekte, wie zum Erhalt von Rotwild, Bienen-Populationen und anderer gefährdeter Tierarten in Deutschland.
Außerdem bin ich seit über 40 Jahren ehrenamtlich bei den Johannitern in unterschiedlichen Funktionen tätig. Derzeit bin ich verantwortlich für alle Werke des Johanniterordens. Sie erzielen immerhin einen jährlichen Umsatz von 2,3 Milliarden €. Zu den Werken gehören u. a. 16 Krankenhäuser, 500 Kindertagesstätten, 90 Seniorenheime und regionale Unfalldienste. Wir sind in 40 Ländern aktiv, haben z. B. vor fünf Jahren 55.000 Flüchtlinge versorgt und in den letzten Monaten 50 Impfzentren betrieben. Es wird somit sein, dass meine Zukunft weniger Wissenschaft und mehr anderes beinhalten wird. Aber wenn die Kraft reicht, bleibt es spannend.
Welche Pläne haben Sie für die kommenden Monate?
Natürlich plane auch ich. Aber ich habe ungern Pläne, sondern genieße es, im Hier und Heute zu leben. Denn – wie der Bergmann sagt: „Vor der Hacke ist es immer dunkel“. Im Frühjahr werde ich sicherlich für mehrere Wochen in die USA fliegen. Ich war jedes Jahr mehrfach drüben und habe, auch während meiner Forschungsaufenthalte an den dortigen Universitäten wie Princeton, Wharton School, Duke, Florida State, MIT und Santa Barbara, eine Hass-Liebe zu diesem Land entwickelt. Durch den Corona-bedingten Reisestopp habe ich Heimweh nach drüben, obwohl ich manches dort ganz furchtbar finde aber anderes großartig.
Und ich träume davon, mal für längere Zeit mit meinem Fiat 500 durch Italien zu zockeln und Wein, gutes Essen und historische Bauwerke zu genießen. In der Vergangenheit sind viele wunderbare Freundschaften zu anderen Wissenschaftlern around the world entstanden. Diese international scientific community hatte es mir immer angetan. Diese Freunde zu besuchen und dabei mehr Zeit zu haben, als in der Vergangenheit, wünsche ich mir.
Zudem bin ich ordentliches Mitglied in der Akademie der Wissenschaften und Literatur, Mainz, und der Europäischen Akademie der Wissenschaften, in denen ich mich mehr engagieren möchte.
Der Ruhestand ist ein Wendepunkt in der wissenschaftlichen Karriere. Verspüren Sie in diesen Tagen auch Wehmut?
Corona erleichtert mir sehr den Abschied von der Uni. Ich habe furchtbar gerne in großen und kleinen Hörsälen gelehrt. Aber als „Radiosprecher“ vor toten kleinen Kacheln zu dozieren, hat mir keinen Spaß gemacht.
Ich bin auch ein ausgesprochener Institutsmensch, der – wenn es nicht andere Verpflichtungen gibt – morgens ins Institut fährt, um zu arbeiten und mit den anderen Wissenschaftlern zu sprechen. Das war auch der Schlüssel, um ein attraktives Angebot für die Studierenden zu bieten, Drittmittel zu generieren und Großforschungsverbünde zu installieren. Das Institutsleben hat durch das home office in den letzten zwei Jahren sehr gelitten. Hinzu kam die Aufteilung meiner Forschergruppe in zwei Teile, d. h. Risiko und Versicherung sowie Gesundheitsökonomie, obwohl die gut zueinander passen.
Sie haben im vergangenen Jahr Ihr siebentes Lebensjahrzehnt vollendet. Solch ein Ereignis ist auch geeignet, um Rückschau zu halten. Gestatten Sie eine sehr persönliche Frage: Sie entstammen mütterlicherseits derselben deutschen Adelsfamilie, wie der preußische Generalfeldmarschall von Blücher, der durch den Sieg über Napoleon in der Schlacht bei Waterloo berühmt wurde. Väterlicherseits haben Sie Wurzeln in einem brandenburgisch-preußischen Adelsgeschlecht, dessen Geschichte bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht. Auch wenn die Weimarer Reichsverfassung 1919 die Vorrechte des Adels aufgehoben und Adelsbezeichnungen zum Teil des Namens erklärt hat, wie hat die Historie und Kultur Ihrer Familie Ihr Leben geprägt?
Es ist nett, dass Sie „Marschall Vorwärts“ ansprechen. Er ist ein großes Vorbild für mich. Er hat seine Soldaten immer mit Respekt und fair behandelt – fast umsorgt, was damals durchaus noch nicht üblich war. Sie nannten ihn „Väterchen Blücher“. Nur durch die dadurch entstandene gegenseitige Loyalität waren seine enormen militärischen Erfolge in den Freiheitskriegen möglich.
Ich denke, dass jeder Mensch durch seinen familiären Background geprägt ist – so auch ich. Ich habe es als ein großes Geschenk empfunden, dass mir die Lebensgeschichten meiner Vorfahren bekannt sind. So war Geschichte für mich immer lebendig und konkret und nicht abstrakt. Mit jeder geschichtlichen Epoche in den letzten 800 Jahren verbinde ich konkrete Personen und Biographien meiner Familie.
So haben wir z. B. vor ein paar Jahren einen Schulenburgschen Familientag im Berliner Reichstag organisiert, auf dem wir uns mit der Rolle unserer Familie in der Nazizeit beschäftigt haben. Ich hatte dazu auch den sehr adelskritischen Geschichtswissenschaftler Stephan Malinowski als Referenten und Diskutanten eingeladen. Wir hatten in der Familie das ganze Spektrum: von glühenden Nazi-Anhängern bis hin zu Widerstandskämpfern, die in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurden. An diesen und anderen konkreten Personen wurde vieles sehr viel klarer, u. a. auch, wie schwer es manchmal ist, Unrecht zu erkennen, anzuerkennen und abzustellen.
Ein anderes Beispiel ist die Schwester meines Großvaters, Bertha, auf deren Beerdigung sich meine Eltern kennenlernten. Sie war die deutsche Florence Nightingale. Nach ihrem Studium der Nationalökonomie an der Universität Berlin wurde sie eine Kämpferin für Frauenrechte und hielt schon vor dem 1. Weltkrieg eine Vorlesung zur “Geschichte der Frauenemanzipation”. Sie war eine Kämpferin für Bildung von Frauen, gründete hierzu eine Hochschule und erhielt 1923 für ihr Engagement den Ehrendoktor für Theologie. Dies war der erste Ehrendoktor, der von der Universität Berlin einer Frau verliehen wurde.
Um ein weiteres Beispiel zu nennen: 2017 habe ich mich mit der Reformation beschäftigt und Dokumente von Vorfahren aus dieser Zeit studiert. Es war spannend zu sehen, wie meine Vorfahren versucht haben, die Zeit der Reformation für die Durchsetzung von Freiheitsrechten und einer neuen Ordnung zu nutzen.
Auch in der Zeit des ersten „Zweifrontenkrieges“ um 1700, d. h. den Kampf Mitteleuropas gegen Ludwig XIV. und die Osmanen, waren viele von meinen Vorfahren sehr aktiv. Wir haben noch heute ihre Bilder, Tagebücher und Briefe, worunter übrigens auch zahlreiche Briefe eines Vorfahrens an Gottfried Wilhelm Leibniz sind, die in Hannover im Leibniz-Archiv verwahrt werden. Dies war Motivation für mich, einen dicken Wälzer zu den finanzwissenschaftlichen Schriften unseres Uni-Namensgebers herauszugeben.
Über dies und anderes bis hin zur Ostpolitik Albrecht des Bären, dem meine Vorfahren dienten, könnte ich erzählen. Aber darum geht es nicht. Mir geht es darum, dass eine solche Familiengeschichte es ermöglicht, Geschichte sehr viel konkreter, interessanter, fassbarer und lehrreicher zu machen. Dies hat dann auch Einfluss auf mein wissenschaftliches Denken gehabt. Mir ist klargeworden, dass alles, was wir heute wissenschaftlich machen – d. h. unsere derzeitigen Fragestellungen, Methoden und Herleitungen – Kinder der jeweiligen Zeit sind. In der Regel überschätzen wir den Wert unseres wissenschaftlichen Tuns und unterschätzen den Einfluss des Zeitgeistes.
Aber ich kann Ihnen auch sagen, dass es nicht immer leicht ist, wenn man einen speziellen Namen hat oder einer kleinen Bevölkerungsgruppe zugeordnet wird. Aber das ist ein anderes Thema.
Darf ich Sie fragen, wie Sie mit solchen Vorurteilen umgegangen sind?
Man sagt: „Ein gesundes Vorurteil ist besser als ein schwaches Argument.“ Vorurteilen kann man nicht mit Argumenten sondern nur mit Bildung begegnen. Mitmenschen in ihren Vorurteilen umzustimmen, halte ich deshalb für extrem schwierig. Stattdessen habe ich versucht, nach meiner Linie zu leben: authentisch, tolerant, frei im Denken, demütig und voller Dankbarkeit für das, was mir geschenkt wurde.
Welche Werte und Traditionen Ihrer Vorfahren leben Sie jetzt, im 21. Jahrhundert?
„Tradition ist nicht die Bewunderung der Asche, sondern das Weitergeben der Glut“. Ich habe deshalb bestimmte Werte immer hochgehalten und an meine drei Söhne, meine Schwiegertöchter und bisherigen vier Enkel weitergegeben. Um es auf eine Formel zu bringen, der überlieferte Leitspruch meiner Familie ist: „Sei gottesfürchtig, niemanden Knecht, freundlich gegenüber jedermann“. Ich habe mich an diesen Leitgedanken gehalten und bin damit stets gut gefahren.
Lassen Sie uns auf Ihre akademischen Wurzeln schauen. Sie haben in Bielefeld und Göttingen Volkswirtschaftslehre, Soziologie und Jura studiert und 1981 am Institut für Internationale Wirtschaftsbeziehungen der Universität München promoviert und 1987 habilitiert. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Universität Princeton waren Sie als Abteilungsdirektor am Wissenschaftszentrum Berlin tätig. Erinnern Sie sich noch, wann haben Sie zum ersten Mal die Begeisterung für die Wissenschaft gespürt, die es braucht, um den Beruf des Wissenschaftlers als Berufung zu betrachten?
Nach der Promotion bin ich an die Woodrow Wilson School der Princeton University gegangen und habe da unter Uwe Reinhardt in einem von der US-Regierung finanzierten Forschungsprojekt gearbeitet. Ich lernte dort im täglichen Kontakt herausragende, mich tief beeindruckende, Wissenschaftler kennen, wie Joseph Stiglitz, William Baumol, Avinash Dixit, Orley Ashenfelter, Carl Shapiro und meinen Nachbarn Harold Furth. Ganz besonders beeindruckt haben mich der uralte Fritz Machlup sowie Arthur Lewis. Für uns arbeitete die gleiche Sekretärin. Lewis bekam während meines Aufenthaltes den Nobelpreis. Nachts saß ich oft im Computerzentrum neben John Nash.
In Princeton wurde mir klar, dass Wissenschaft meine Welt ist, obwohl mir sofort bewusst war, dass die genannten Persönlichkeiten in einer ganz anderen Liga sind, die ich nie erreichen werde. Ich fragte mich nach meiner Rückkehr nach Deutschland, wo ich hier auch ein nur annährend ähnliches Umfeld finde und ging zum Wissenschaftszentrum Berlin. Dort waren wahrscheinlich meine wissenschaftlich produktivsten Jahre. Ich wurde später als Direktor ans WZB berufen, blieb aber aus mir heute noch unerfindlichen Gründen in Hannover.
Sie blicken nach 33 Jahren als Wissenschaftler am Institut für Versicherungsbetriebslehre auf eine beeindruckende Bilanz. Laut ResearchGate haben Sie 531 Publikationen veröffentlicht, die 5.416 mal zitiert und 41.051 mal gelesen wurden. Sie haben am Ende Ihres aktiven Berufslebens 69 Promovenden begleitet, von denen heute zehn selbst als Professorinnen und Professoren lehren und forschen. Wenn Sie noch einmal Ihre Zeit an der Leibniz Universität Revue passieren lassen, welche Ereignisse waren eine Kraftquelle für Sie?
Es sind weniger Ereignisse als zwei wunderbare Eigenschaften des Professorenberufes, die mir zu dieser Frage einfallen: Für mich waren die Studenten und jungen Wissenschaftler am Institut eine wesentliche Kraftquelle. Ich liebte den großen Hörsaal voller wissbegieriger Studenten, die mehrtägigen externen Studenten-Seminare, die ich sicherlich 30-mal an verschiedenen Orten durchgeführt habe, und den wissenschaftlichen Diskurs mit den Wissenschaftlern am Institut. Vieles von dem ging mit den diversen Studienreformen verloren, insbesondere mit der Abschaffung des Diplom-Studienganges.
Ein zweites Phänomen ist die Freiheit: So habe ich immer meine Forschungssemester genutzt und sie an sehr stimulierenden Institutionen verbracht - wie z. B. der HEC Paris, der Wirtschaftsuniversität Wien, dem Instituto Mario Negri Bergamo oder dem LEST Aix-en-Provence. Ich bin in vielen Ländern gereist, um Projekte durchzuführen, u. a. in China, Taiwan, Korea, Uganda, Mali, Korea und Nord-, Süd- und Mittelamerika. Mein Beruf gab mir auch die Freiheit, Schriftleiter von 3 wissenschaftlichen Zeitschriften zu sein, von denen ich zwei selbst mitgründen konnte.
Übrigens werden von ResearchGate nur Aufsätze erfasst, die in wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert werden. Ich gehöre noch zu der Generation, die Bücher verfasst bzw. herausgegeben hat, insgesamt 58. Während ein wissenschaftlicher Aufsatz das Bohren eines tiefen engen Lochs ist, wird durch ein Buch eine breite Grube ausgegraben. Es hat ein Forschungsgebiet zum Gegenstand oder gibt eine breite Antwort auf eine wissenschaftliche Frage. Zudem bestand mein Ehrgeiz darin, jede meiner Vorlesungen in ein Buch zu gießen. So entstanden 6 Lehrbücher. Die Studenten haben das sehr geschätzt. Heute spielen aufgrund unserer Normen Bücher keine Rolle mehr für die Reputation eines Forschers. Sie werden deshalb auch nicht mehr geschrieben. Schade eigentlich, da dies meines Erachtens negative Auswirkungen auf die Breite und interdisziplinäre Anschlussfähigkeit unserer Forschung hat.
Professorinnen und Professoren sind heutzutage nicht nur Lehrer und Forscher, sondern auch Hochschulmanager. Sie werben um Mittel, verwalten Etats und führen Teams. Bisweilen wird eine zunehmende Bürokratisierung des Wissenschaftssystems kritisiert, die die Zeit für die Forschung durch Dokumentationen, Anträge und Begutachtungen beschränkt. Was raten Sie jüngeren Kolleginnen und Kollegen, wie sie diesen Spagat meistern?
Mir hat Management immer Spaß gemacht und ich hatte zudem phantastische Kolleginnen und Kollegen am Institut, die mich wunderbar unterstützt und Aufgaben abgenommen haben. Meinen jüngeren Kolleginnen und Kollegen rate ich: Bauen Sie sich ein Team auf! Dann haben Sie so viel Freiheit wie in kaum einem anderen Beruf und viel Freude an allem, was wir Wissenschaftler tun!
Vielen Dank für Ihre Auskünfte.
Die Fragen stellte Birgitt Baumann-Wohlfahrt.